Die Faszination der Opferrolle

Sich als Opfer bewusst sein

Warum ist es so schwer, die Opferrolle und damit das Leiden aufzugeben

1. Das Leiden ist zu einem vertrauten Gefühl geworden, man hat sein Leben damit eingerichtet. Diese Gewohnheit ist so vertraut, dass man sich, obwohl man leidet, damit wohl fühlen kann. Das Ende des Leidens bedingt eine Veränderung der Gewohnheit. Diese Veränderung kann durch bewusste Entscheidungen oder durch schicksalhafte Ereignisse herbeigeführt werden.

2. Das Leiden ist für manche Menschen die einzige Möglichkeit sich intensiv zu spüren. Ich leide also spüre ich mich, also lebe ich. Das Leiden wird zur intensivsten Erfahrung von Lebendigkeit. Leiden und Lebendigkeit scheinen sich zu widersprechen, dennoch ist dieses Paradox sehr oft zu beobachten. Oft klagen Klienten, nachdem sie sich von Ihrem Leiden verabschiedet haben, über ein Gefühl der Leere, das schwer zu ertragen ist.

3. Leiden wird, wie im klassischen Fall des Krankheitsgewinns belohnt. Solange man leidet, bekommt man mehr Liebe, Aufmerksamkeit und Zuwendung. Durch die Krankheit, zum Beispiel einen Herzinfarkt, wird man wichtiger. Alles dreht sich nur noch darum.

4. Das Leiden erhebt den Leidenden in eine bessere Position. Weil er leidet, fühlt er sich besser als seine Mitmenschen und daraus entsteht der Anspruch, der meist unbewusst ist. Weil dieser Anspruch unangemessen ist, kann er nicht erfüllt werden, wodurch die Opfer- und Leidensrolle wieder verstärkt wird. Keiner versteht mich oder alle sind gegen mich sind die Grundüberzeugungen von solchen chronischen Opfern, die im Teufelskreis des Leidens gefangen bleiben. Vor allem im Christentum hat das Leiden für andere einen hohen Stellenwert. Märtyrertum ist bekanntermaßen eine gute Voraussetzung für Heiligsprechung.

5. Leiden kann gesellschaftlich anerkannt sein und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe bedingen. Die armen verlassenen Frauen werden von der Gesellschaft oberflächlich bemitleidet, wohingegen die verlassenen Männer noch keinen gesellschaftlich anerkannten Anspruch auf ihr Leid haben. Die verlassenen Frauen bilden eine Gruppe, die sich gegenseitig betrauert, bestätigt und motiviert. Verlässt die Frau die Rolle des Opfers, gehört sie nicht mehr zu dieser Gruppe. Auch Selbsthilfegruppen sind, bei allen sinnvollen Aspekten, in dieser Weise gefährdet. Die Gruppenidentität schreibt oft vor, dass man nur teilhaben kann wenn man leidet.

6. Leiden wird meist charakterisiert durch Passivität. Den passiven Zustand zu verlassen bedeutet, aktiv zu werden und von der Opferrolle in die Täterrolle zu wechseln. Täter sein bedeutet in einem positiven Kontext, Verantwortung zu übernehmen und zur Tat zu schreiten.

7. Ich konnte beobachten, dass bei familiären Verstrickungen mit Schuld in früheren Generationen (Mord, Enteignung…) die Leidenden eine starke Hemmung haben, aktiv zu werden. Erfolglosigkeit und Arbeitslosigkeit sind in diesen Fällen Symptome. Das Festhalten an der Opferrolle dient dazu, nicht so zu werden wie die Väter und Großväter.

8. Leiden kann missverständlich interpretiert, die eigene Unschuld wiederherstellen. Aus Angst, die Täterschaft anzuerkennen, flüchtet man in die Opferrolle und wird scheinbar wieder unschuldig. Als Beispiel möchte ich hier die Rolle vieler Menschen im dritten Reich nennen, die nach dem Krieg in die Opferrolle gewechselt sind und nicht dabei waren. Hier ist die Opferrolle fast so etwas wie ein Massenphänomen und war lange gesellschaftlich anerkannt. Dieses Nicht-Anerkennen der eigenen Schuld bewirkt bei den nachfolgenden Generationen wiederum Leiden.

9. Als Ausgleich für nicht anerkannte Schuld der Täter in früheren Generationen fühlen sich die nachfolgenden Familienmitglieder oft grundlos schuldig. Aus Loyalität mit den Opfern der Täter fühlen sie sich als Verräter, wenn sie diese Rolle aufgeben. Erst wenn die Liebe zum Täter und das Mitgefühl mit den Opfern Raum bekommt, kann die Tat beim Täter gelassen werden und damit der Zwang, sich zu opfern, gelöst werden.
Für die Nachkommen von Opfern gilt: Auch sie bleiben aus Loyalität zu ihren Vorfahren in der Opferrolle. Die Symptome dieser Leidenden sind ähnlich, nämlich schwere Formen von Krankheit und Depression.

Ergänzend sind die Formen des sich Opferns zu nennen, die durchaus viele Menschen nützen. Dazu gehört für mich der Einsatz von Ärzten ohne Grenzen, von Katastrophenhelfern jeglicher Organisationen, Caritasmitarbeiter etc., um nur einige Beispiele zu nennen. Das Ziel dieser oft ehrenamtlich oder minimal entlohnten Helfer ist etwas Gutes zu tun.

Was bewegt eine junge Frau dazu, als Krankenschwester inmitten eines Minengebietes in Angola zu arbeiten? Was bewegt die 39-jährige Lehrerin dazu, in Afrika, Analphabetinnen zu unterrichten? Beide verzichten vielleicht auf persönliche Sicherheit, Geld, Familie und Partnerschaft, um bedürftigen Menschen zu dienen. Das Opfer wird zum Dienst. Vielleicht als eine Art von Wiedergutmachung im eigenen System oder in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Inwieweit dieser Dienst heilend auf das System wirkt, kann die Familienaufstellung zeigen.

Text:Was ist nur los mit mir von Ilse Kutschera