Pränataler Schock

Gastbeitrag Lights for my lost brother

Als ich den Blogbeitrag von Katharina aufmerksam las, war ich ganz berührt, weil dies auch ein Thema ist, was mich immer wieder bewegt, gerade auch weil ich immer mehr hinter meine pränatalen und postnatalen Prägungen blicken kann und ihre Folgen und Auswirkungen auf mein Leben erkenne und fühle. 

In der aufzählenden Liste von Katharina von möglichen pränatalen Prägungen fiel mir auf, dass eine Aufzählung fehlt. Von dieser erzählt mein Beitrag – von einem Erlebnis, das ich vor kurzem hatte. 

Als ich Kind war, erzählte mir meine Mutter einst, dass sie vor mir schon einmal schwanger war, sie das Kind jedoch verlor, und dass es ein Junge war. Ich erinnere mich nicht mehr, was ich damals empfand. Im Rahmen einer Weiterbildung zur systemischen Aufstellungspraxis (2013) griff ich das Thema auf und liess es aufstellen. Ich kam gefühlt das erste Mal mit meinem Bruder in Berührung und er bekam einen Platz in meinem Herzen. Meine Mutter war zu dieser Zeit bereits 11 Jahre verstorben. 

In dieser Arbeit kam ich auch mit der Trauer in Berührung. Das mag jetzt etwas drastisch klingen, doch danach war scheinbar Frieden in mir mit dem Thema. Was will man machen, wenn sich ein Kind entscheidet wieder zu gehen? Davon ging ich aus, weil meine Mutter mir es so erzählte. 

Ende Februar besuchte ich eine Freundin, die ich seit meiner Schulzeit kenne. Wir plauderten auch von alten Zeiten, sie kannte meine Mutter auch sehr gut und kamen dann auf meinen Bruder zu sprechen. Sie sagte: «Als deine Mutter die Abtreibung vornehmen liess,…»

Ein Moment lang erstarrte ich innerlich. Hatte ich richtig gehört? Abtreibung? Ich fragte sie: «Habe ich richtig verstanden, sagtest du Abtreibung?». Sie schaute mich verdutzt an: «Du wusstest davon nichts? Oh, das wollte ich nicht…» Es war ihr nicht recht.

Zu spät. Ich konnte in dem Moment keinen klaren Gedanken mehr fassen. In mir wurde es im Brustbereich ganz eng, eine Beklemmung und mein Bausch schmerzte und zog sich ebenfalls zusammen. Mir war unwohl und gleichzeitig stieg eine Übelkeit in mir auf. 

Es ist das eine ein Kind zu verlieren, das ist traurig, ein Verlust. Doch ein Kind abzutreiben etwas ganz anderes. Ich hätte einen Bruder gehabt. Ich war fassungslos.  

Meine Freundin erzählte, was meine Mutter ihr erzählte. Er hatte blonde Haare. Sie erzählte weiter, dass meine Mutter ihn in England spät abtreiben liess, weil es in der Schweiz verboten war. In welcher Schwangerschaftswoche die Abtreibung vorgenommen wurde, war meiner Freundin nicht bekannt (Anmerkung: Haare wachsen einem Ungeborenen ab der 20. Ssw). 

Fassungslos hörte ich ihren Erzählungen zu, wie meine Mutter mit ihr darüber sprach, über die Schuldgefühle und die Scham den kleinen Jungen abgetrieben zu haben. 

Die Heimfahrt war gefühlsintensiv und wechselnd zwischen Verwirrung, Trauer und Einsamkeit. Wie schön wäre es gewesen mit einem Bruder aufzuwachsen. Ich weinte um ihn. Dann kam dieser Gedanke hoch: «Er wurde ermordet!» Das schmerzte sehr. 

Was bewegte meine Mutter ihn abzutreiben? Welche Verzweiflung trieb sie dazu? Warum? So viele Fragen, die ich nicht mehr klären kann mit ihr. Und bevor ich ging, wollte mich meine Freundin mit den Worten beruhigen: «Dein Trost ist es ja, dass du wirklich ihr Wunschkind warst.»

Und als ich diese Worte in mir nochmal nachhallen liess, breitete sich in mir wieder dieses «Kotzbrechgefühl» aus. Wunschkind? Doch das ist eine andere Geschichte. Heinz Schmid, mein Ausbilder zur Systemischen Aufstellungspraxis,  sagte einmal in unserem Lehrgang: «Wunschkinder sind dafür da um die Wünsche der Eltern zu erfüllen. Sie sind nicht wirklich frei in ihrem Sein.» Ja, da war was dran. Das ist in vielen Fällen der Fall, leider auch in meinem. 

Zurück zu meinem abgetriebenen Bruder. Die folgenden Tage war ich getrieben von Unruhe, schmerzender Leere im Herzen und Trauer. Ich suchte die Unterstützung eines Freundes, der mit mir den Raum gab zu trauern und dem Schmerz mitfühlend zu begegnen. 

Und da waren so viele quälende Fragen. Warum sagte mir meine Mutter nicht die Wahrheit? Begleitet von Gefühlen der Wut und Enttäuschung. Auch Fragen darüber, wie sich das wohl auf mich auswirkte? Ich wusste um die Auswirkungen aus der Aufstellungspraxis und -arbeit. 

Ich wuchs in derselben Gebärmutter heran wie mein Bruder vor mir. Die Erinnerungen waren gespeichert. Ich wusste es einfach. Und so begann ich nach Texten im Internet zu suchen und stiess dabei auf welche, las sie und spürte die Resonanz in mir. 

Man nennt die Geschwisterkinder, welche lebend geboren wurden «Abtreibungsüberlebende», genauso auch diejenigen, die im Mutterbauch eine Abtreibung überlebten etc. 

Hier eine Quelle: 

http://schwangerschaftskonfliktberatung.info/infos/ueber-verschiedene-themen/folgen-fuer-geschwisterkinder/index.html

Da steht: 

b) deren Geschwister abgetrieben wurden

Es ist anzunehmen, daß die meisten Kinder es wissen oder zumindest ahnen, wenn in der Familie eine Abtreibung stattgefunden hat. Für das Unterbewußtsein des Kindes entsteht eine schreckliche Situation, denn es sagt sich, dass es, um zu überleben, unter allen Umständen und um jeden Preis immer ein Wunschkind bleiben müsse. Dies stellt eine tiefe existentielle Angst dar! Beziehungen und Zuneigung dieser überlebenden Kinder zu ihren Eltern sind oft von Unruhe und Unsicherheit geprägt. Diese Kinder können sowohl sehr passiv, ergeben und ängstlich sein, als auch während ihrer frühen Kindheit feindlich gesonnen sein. Viele “explodieren” im Moment der Adoleszenz. Existentielle Wut, Gewalt, Selbstmord, Haß gegen die Gesellschaft, die die Ungeborenen nicht vor den mörderischen Absichten der Eltern schützt, Zorn und Empörung gegen die Eltern treten auf.
Da sie lange am dünnen Faden der Willkür ihrer Eltern gehangen haben, können sie im Jugendalter aufrührerisch, jähzornig und zu willkürlichen Zerstörern werden. Diese junge Generation hat oft eine sehr ablehnende Haltung gegenüber ihren Eltern, weil sie ein Geschwisterkind umgebracht haben. Es kann sich bis zu einem Todeshaß entwickeln. Da solche Kinder ihren Eltern nicht getraut haben, trauen sie auch sich selbst nicht. Sie haben Angst, selbst Eltern zu werden.

Als ich die Passage mit dem Wunschkind las, zog sich erneut etwas in mir zusammen im Magen. Das erzeugte eine solche starke Resonanz und ich spürte die «Wahrheit» darin. Und ich erkannte den Zusammenhang meines Musters, es immer recht machen zu wollen und die Erwartungen meiner Mutter zu erfüllen, um mich ihrer Liebe zu versichern. 

Selbst Bert Hellinger schrieb über die Ängste der überlebenden Geschwister gegenüber der Mutter. Und ich erinnerte mich an eine Aufstellung im Mai 2018, in der ich in einer Stellvertreterrolle stand (was aus heutiger Sicht kein Zufall war). Eine Teilnehmerin äusserte ihr Anliegen, sie konnte keine nahen Beziehungen eingehen und wollte wissen, warum und woher das kam. Ich wurde aufgestellt für den Grund. Ebenso wurden die Mutter und der Vater aufstellt. Und ich spürte, dass die Mutter sehr bedrohlich auf mich wirkte und ich Angst vor ihr hatte. Ich konnte sie nicht in meiner Nähe haben. Mit dem Vater konnte ich in Kontakt gehen. Im Verlaufe der Aufstellung stieg grosse Not in mir auf, denn meine Befürchtung war, dass mich die Mutter nicht mehr liebhaben und mich deswegen töten würde. Da erfuhren wir auch, dass die Mutter ein Kind abtreiben liess, als die Teilnehmerin 12 Jahre alt war. Die Mutter redete mit der damals 12jährigen darüber und fragte sie auch, ob sie das Kind abtreiben sollte, was sie in eine tiefe Not und Angst stürzte. Es wurde danach auch nie mehr darüber gesprochen. Was für eine traumatische und existenzielle Bedrohung! Und es betrifft so viele Menschen

Seit ich davon erfuhr, sind noch keine 4 Wochen vergangen und stecke noch inmitten der Verarbeitung der Trauer um meinen Bruder. Es ist Trauer, aber eine andere Form davon, als ich noch glaubte, dass er von selber ging. Mit dem Wissen, dass er sterben musste, löste dies eine weitere Trauer aus. 

Und das Wort «Wunschkind» löst immer noch unangenehme Gefühle aus. Ich weiss, dass diese Gefahr nicht mehr real ist, doch im Emotionalkörper ist es immer noch gespeichert und ich werde mich dem liebevoll zuwenden, doch jetzt ist die Trauer um meinen Bruder noch viel stärker und bedarf meiner mitfühlenden Aufmerksamkeit. Alles zu seiner Zeit. Ich werde dazu gerne später einen Beitrag verfassen. 

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Lights for my lost brother

Written by Yvonne Leiser Hofmann, 16/03/2019