In vielen Köpfen ist die Überzeugung verankert, dass die Aufarbeitung eines Traumas allein bewältigt werden muss. Dieses innere Bild entsteht häufig im Moment der Traumatisierung selbst. In diesem Beitrag erläutere ich, wie dieses Bild entsteht und warum ein eigenständiges Aufarbeiten oft nicht möglich ist. Zudem zeige ich einen Weg auf, der Veränderung und Heilung ermöglicht.
Wie Körperprozesse unser Wohlbefinden und unsere Heilung beeinflussen
Wenn wir auf die Welt kommen, ist unser Nervensystem noch nicht in der Lage, sich selbst zu regulieren. Das bedeutet: Wenn wir in einer Not sind – sei es durch Hunger, Schmerz oder Ünwohlsein – brauchen wir Unterstützung von aussen. Es ist in solchen Momenten hilfreich, oft sogar notwendig, in die Arme genommen zu werden, Körperkontakt zu erfahren, tröstende Worte zu hören, gestreichelt und liebevoll gehalten zu werden. Durch diese Zuwendung kann unser Nervensystem über den Körper eines Erwachsenen erste Regulationserfahrungen machen.
Auf diese Weise lernt das Nervensystem Schritt für Schritt, sich selbst zu regulieren. Doch auch wenn dieses System im Laufe der Entwicklung zunehmend autonomer funktioniert, heisst das nicht, dass wir in jeder Situation allein zurechtkommen. Bei einem Schock oder einem überfordernden Ereignis ist die Fähigkeit zur Selbstregulation oft eingeschränkt. In solchen Momenten ist es hilfreich, wenn ein zweiter Körper da ist.
Wenn es möglich ist, ist ein Körperkontakt in solchen herausfordernden Momenten sehr hilfreich. Das kann eine Hand in meiner Hand sein, eine Berührung an den Schultern oder vielleicht sogar eine Hand, die auf meinem Herzraum ruht. Dieser Körperkontakt vermittelt unterschiedliche Botschaften: «Ich bin nicht allein. Ich werde unterstützt in diesem Prozess.» Ich erhalte Sicherheit und die Bestätigung: «So wie ich bin, bin ich richtig.»«Die körperlichen und emotionalen Reaktionen sind normal.»
Gerade am Anfang des Lebens, wenn wir noch nicht sprechen können, ist diese Form der Bestätigung wichtig. Sie ist eine entscheidende Form der nonverbalen Kommunikation zwischen Mutter oder Vater und dem Kind, zwischen uns und unseren ersten Bezugspersonen.
Überlebensmechanismen: Warum wir emotionale Isolation lernen
Wieso entsteht in uns das Bild, dass wir schwierige Situationen allein bewältigen müssen? In traumatischen Ereignissen haben wir oft genau das erfahren: Allein gelassen zu werden. Dass die Unterstützung durch einen Körper, eine Stimme, eines zweiten Nervensystems nicht in der Qualität da war, die es gebraucht hätte, damit es keine Spuren hinterlässt im Körper.
Und trotzdem hat unser System einen Weg gefunden, weiterzumachen. Ein Teil, der häufig greift, ist die Dissoziation. Dissoziation bedeutet, dass wir einen Aspekt oder mehrere Aspekte von uns zurücklassen. Wir entscheiden das nicht bewusst. Das ist ein Überlebensmechanismus, der automatisiert passiert und dreimal schneller ist als der Verstand.
Diese abgespaltenen Anteile bleiben im traumatischen Ereignis stecken, auch emotional. Für uns geht das Leben weiter – doch innerlich wiederholen sich Muster. Ein klassisches Beispiel ist Beziehungen: Wir lernen jemanden kennen, die Beziehung geht auseinander, und wir nehmen uns fest vor, es diesmal anders zu machen. Wir glauben, das Muster erkannt zu haben und denken, dass wir fähig sind, uns nicht wieder auf einen ähnlichen Menschen einzulassen. Und doch passiert es erneut – das alte Muster kehrt zurück.
Ganz häufig ist es so, dass wir meinen, wenn wir uns nur genug anstrengen oder bemühen, wenn wir konsequent sind mit uns, dass wir es diesmal «in den Griff» bekommen. Doch unbewusst greifen wir auf das zurück, was wir einst gelernt haben: Allein zurechtkommen.
Wir glauben, weil wir die ursprüngliche Erfahrung allein bewältigt haben, müssten wir auch heute, in der Gegenwart, das, was aus der Vergangenheit wirkt, ebenfalls allein bewältigen. Doch genau das führt dazu, dass jene inneren Anteile, die sich damals hilflos gefühlt haben, die überfordert oder ohnmächtig waren, diese Erfahrung wiederholen. Und oft ist die Fähigkeit zur Selbstregulation in solchen Momenten begrenzt.
Es kann gelingen, sich selbst zu regulieren, doch die Wahrscheinlichkeit ist klein. Es ist einfacher und wirkungsvoller, die Regulation mit einem zweiten Nervensystem, einem zweiten Körper und einem zweiten Hirn zu erleben. Erst dann kann die tiefergehende Veränderung geschehen, die das alte Muster auflöst.
Veränderung beginnt im Körper: Die Rolle des Zellgedächtnisses
Alles, was wir erleben, hinterlässt Spuren im Zellgedächtnis – das Schöne genauso wie das Schwierige. Und in der Regel beschäftigen uns die belastenden Erfahrungen mehr, weil sie auf der körperlichen Ebene verankert sind, im Zellgedächtnis und in unserem Alltag wirken. Deshalb braucht es für tiefgreifende Veränderung einen körperlichen Prozess. Der umfasst sowohl Selbstregulation als auch Co-Regulation. Es geht dabei nicht in erster Linie um Willenskraft, Anstrengung, positives Denken oder Meditation – so hilfreich das auch sein kann. Entscheidend für echte Veränderung ist der Körperprozess.
Durch Regulation und Co-Regulation kann das, was im Zellgedächtnis festgehalten ist, in einen ursprünglichen Zustand zurückfinden. Im Gehirn entstehen neue synaptische Verbindungen. «Die alte Autobahn», die sich durch wiederholte Muster gebildet hat, wird so allmählich überschrieben.
Diese Prozesse sind notwendig, damit Veränderung bleibt. Wenn wir uns immer wieder bemühen und es trotzdem nicht schaffen, wenn wir in Selbstverurteilung oder gar Selbsthass hineingehen, liegt das nicht an mangelnder Anstrengung. Sondern daran, dass wir versuchen, etwas allein zu lösen, was nur über den Körper und in Beziehung bearbeitet werden kann.
Noch einmal: Es ist keine Willensfrage. Es braucht einen Körperprozess.
