Verzeihen und Trauma: Wege zur emotionalen Heilung

Der Begriff Vergeben oder Verzeihen ist stark religiös konnotiert. In diesem Beitrag geht es um Verzeihen im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen. Ich gehe der Frage nach, wie wir im Umgang mit den schwierigen Anteilen unserer Biografie einen eigenen Weg finden können. Ausserdem erfährst du, weshalb Verzeihen nicht automatisch Erleichterung bringt.

Wenn die Vergangenheit die Gegenwart prägt

Aus der kindlichen Perspektive ist das, was mir angetan wurde, mit heftigen Emotionen aufgeladen. Es ist oft mit Wut, Trauer, Hass, Ängste verbunden. Wenn ich als Erwachsener auf diese Erfahrungen zurückschaue, begegne ich ihnen bestenfalls mit Verständnis, Entschuldigungen, Erklärungen oder Schutzstrategien. Möglicherweise habe ich Angst davor, was passiert, wenn ich den Schmerz zulasse, in die tiefe Wunde hineingehe, dem Ganzen nicht mehr ausweiche.

Meine Gegenwart speist sich aus der Vergangenheit. Das heisst: Mein unmittelbares Erleben, wenn sich beispielsweise Muster wiederholen, hängt mit meinen Verletzungen von früher zusammen.

So schützt uns der Körper

Unser Körper hat verschiedene Schutzmechanismen. Einer davon heisst im Fachbegriff Dissoziation. Typische Beschreibungen lauten: «Ich stehe völlig neben mir.» «Ich fühle mich eingenebelt.» «Irgendwie bin ich wieder wie ein kleines Kind.»

Dieser Schutzmechanismus greift dreimal schneller, als der Verstand reagieren kann. Das heisst: Noch bevor ich bewusst handeln kann, befinde ich mich bereits in einem dissoziativen Ausnahmezustand. Dieser Mechanismus ist evolutionsbiologisch ans Überleben gekoppelt. Er ist in Überbleibsel aus dem Säugetierkörper, vergleichbar mit dem Erstarren bei Gefahr.

Bei der Dissoziation bleibt etwas von mir zurück. Ein Teil steckt in der Vergangenheit fest und entwickelt sich nicht weiter – auch emotional nicht. Was ich damals zurücklassen musste, sind Persönlichkeitsanteile von mir selbst. Oft spricht man hier von inneren Kindern oder kindlichen Anteilen.

Diese Anteile werden dann sichtbar, wenn mich ein emotionaler Trigger aus der Gegenwart in eine frühere Situation katapultiert. Häufig führt das in einen desolaten Zustand. Von einem Moment auf den anderen fühle ich mich bedürftig, wütend oder traurig. Oder in einer alten Angst gefangen.

Der Vergangenheit begegnen

Wie ich zuvor erklärt habe, wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Etwas in dir klopft an, weil es geheilt werden möchte. Damit diese Anteile ihr Eigenleben aufgeben und sich im Heute verankern können, braucht es eine emotionale Nachentwicklung.

Es geht darum, diesem Prozess Raum zu geben und dir innerlich zu begegnen. Dich dort abzuholen, wo du gerade bist, und nicht dort, wo du sein möchtest. In Verbindung zu gehen mit dem, was sich abgespalten hat. Dich den Emotionen zu stellen und sie anzunehmen. 

In der Regel gehen wir nicht allein in den grössten Schmerz. Die Angst vor erneuter Überwältigung, Ohnmacht oder Hilflosigkeit verhindert das. Ausserdem lassen sich emotionale Regulierung und die Beruhigung des Nervensystems mit einem zweiten Körper oft besser bewältigen – etwa in einer vertrauensvollen Beziehung oder mit therapeutischer Begleitung.

Wenn Verzeihen möglich wird

Manche Menschen erwarten, dass Ruhe einkehrt, sobald sie jemandem verzeihen. Oft erhält man auch gut gemeinte Ratschläge wie: «Du brauchst ja nur zu verzeihen, dann geht es dir besser.» oder «Lass los, schau nach vorne.» Fast wie ein Zwangs-Heilen oder das Wegmachenwollen des Schmerzes. Leider funktioniert das selten.

Eine Möglichkeit kann entstehen, wenn der Täter eine tiefe Einsicht über das Geschehene entwickelt und aus diesem Verständnis heraus um Verzeihung bittet. Das kann tatsächlich einen Weg öffnen.

Verzeihen ist jedoch kein Entweder-oder, sondern es entsteht etwas Drittes: ein Und. Etwas kommt dazu. Ich vergleiche es gern mit: meine Schuhe und deine Schuhe. Oder: dein Weg und mein Weg. Unsere Wege haben sich irgendwann gekreuzt und Verletzungen hinterlassen. Und durchs Weitergehen, jeder auf seinem Weg, kann etwas Neues entstehen.

Verzeihen ist oft ein längerer Prozess. Es ist nicht einfach eine Entscheidung, nach der alles vorbei ist. Vielmehr braucht es eine innere Reifung. Diese erfordert Zeit, Geduld und emotionale Arbeit.

Verzeihen oder Versöhnen?

Verzeihen und Versöhnen werden oft gleichgesetzt, unterscheiden sich jedoch grundlegend:

  • Verzeihen ist ein innerer Prozess. Er passiert in mir, unabhängig davon, ob der Verursacher mitmacht oder nicht. Ich entscheide, wie ich mit meiner Verletzung umgehe, ob ich loslassen oder Frieden in mir finden kann.
  • Versöhnung hingegen braucht beide Seiten. Sie setzt voraus, dass auch der andere Mensch bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Erst dann kann auf dieser Basis wieder eine Form von Beziehung entstehen.

Das bedeutet: Ich kann verzeihen, ohne mich zu versöhnen. Manchmal ist es sogar heilsamer, innerlich loszulassen, während die Beziehung nach aussen ruht oder beendet bleibt. Versöhnung bleibt ein möglicher, aber kein notwendiger Schritt.

Wenn Verzeihen nicht möglich ist

Es gibt Dinge, die so tief ins Leben eingegriffen haben, dass man sie nicht verzeihen kann. Wenn ich diesen Satz in meiner Praxis ausspreche, erlebe ich immer wieder, wie sich im Betroffenen etwas löst, wie Druck entweicht und eine Last von den Schultern genommen wird.

Wenn du verzeihen möchtest, frage dich:

  • Wer in mir meint, vergeben zu müssen?
  • Was will ich mit dem Verzeihen erreichen?
  • Welche Motivation steckt dahinter?

Noch einmal: Wegmachen wollen ist nicht heilen. Wer glaubt, dass man mit Verzeihen frei wird, könnte enttäuscht werden. Denn Vergeben bedeutet nicht automatisch: Vergessen, Akzeptanz, Nachsicht, Billigung, Rechtfertigung oder Begnadigung im Sinne eines Ungeschehenmachens.

Aus dem Zwang herausfinden

Es geht zunächst darum, sich vom Zwang zu lösen. Von der Vorstellung, verzeihen zu müssen oder vom Druck, es unbedingt zu wollen.

Dazu braucht es die Bereitschaft, dem tiefsten Schmerz zu begegnen. Den Wunden, die zurückgeblieben und emotional aufgeladen sind. Nur so kann im Prozess innere Ruhe entstehen. Und vielleicht entwickelt sich daraus mit der Zeit auch eine Form von Frieden.

Gern begleite ich dich dabei, diesen Weg zu gehen. Melde dich für ein klärendes Erstgespräch, wenn du Unterstützung brauchst.