Die Identitätsfindung im Spagat zwischen den Kulturen
Die Kultur
Unter «Kultur» verstehen wir die menschlichen Wertvorstellungen und erlernten Verhaltensweisen. Kulturen unterscheiden sich bezüglich Werten, Vorstellungen, Sitten, Bräuchen, Überzeugungen und Praktiken. Die verschiedenen Lebensweisen definieren eine bestimmte Menschengruppe oder Nation. Sie verbinden – und wirken gleichzeitig als klare Grenzen.
Die Sprache ist eine der wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Sie prägt Identität und Kultur. Woher jemand stammt, erkennen Gleichsprachige und geneigte Vielreisende am Dialekt. Als mein Mann mit 13 Jahren ins St. Galler Rheintal zügelte, wusste die eingesessene Bevölkerung aufgrund der Sprachvarietäten, in welcher Ortschaft der Sprechende aufgewachsen ist. Die Einheimischen konnten sogar unterscheiden, ob jemand beispielsweise aus Widnau, Diepoldsau oder Heerbrugg stammte.
Dieselbe Sprache verbindet Menschen. Auch Kulturgüter und Brauchtümer vereinen. Eine lange Tradition hat zum Beispiel das Jodeln im Toggenburg. Für Toggenburgerinnen und Toggenburger ist ihre Gesangs- und Musikkultur eine Selbstverständlichkeit, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Auch Älplerchilbis, Alpfahrten, Stubeten und Viehschauen gehören zum gelebten Brauchtum in dieser Talschaft.
Die Identität
Im engeren psychologischen Sinne definieren wir «Identität» beim Menschen als seine einzigartige Persönlichkeitsstruktur. Im jugendlichen Alter beginnt der Mensch mit der Entwicklung seines Selbstbilds. Der Jugendliche sucht seine soziale Rolle und bildet seine Persönlichkeit. Mit dem Verständnis für die eigene Identität definiert er, was er ist und was er sein möchte.
Bei der Identitätsbildung unterscheide ich zwei Aspekte: die personale und die soziale Identität. Die personale Identität verleiht mir als Individuum meine Individualität und lässt mich als einzigartig erscheinen. Darin verankert sind auch Kreativität, Selbstbestimmung und Autonomie. Meine soziale Identität wird stark von aussen beeinflusst. Sie definiert sich über die Menschen und Gemeinschaften, mit denen ich in Kontakt stehe. Von ihnen erfahre ich, woran andere glauben und wie sie über mich denken. Und ich möchte dazugehören.
Der Wunsch nach Anerkennung ist ein menschliches Grundbedürfnis und eine notwendige Voraussetzung für die Identitätsbildung. Ich möchte mich gesehen und gehört fühlen. Mit der Bestätigung von aussen will ich spüren, dass ich so, wie ich bin, richtig bin. Für diesesWohlgefühl der Zugehörigkeit opfern manche Menschen ihre Überzeugungen.
Die soziale Identität kann der Mensch auch durch materielle Dinge ausdrücken. Das Tragen einer angesagten Kleidermarke oder das «richtige» Auto vor dem Haus bezeugen eine Gruppenzugehörigkeit und dienen zur Selbstdarstellung der eigenen Identität. Gleichwohl schafft jede Zugehörigkeit eine Abgrenzung. Wenn wir Sneakers der Trend-Marke On tragen, fühlen wir uns anderen On-Trägern nahe. Gleichzeitig grenzen wir uns sichtbar von den Adidas- und Nike-Sneaker-Trägern ab.
Die personale Identität, die einem Menschen seine Einzigartigkeit verleiht, und die soziale Identität, die das Fremdbild eines Menschen beschreibt, bilden zusammen die Ich-Identität. Je mehr Unterschiede bestehen, desto schwieriger wird es, die Erwartungen von aussen mit den individuellen Merkmalen in Einklang zu bringen.
«Identität bedeutet, dass man weiss, wer man ist und wie man in diese Gesellschaft passt.»
Erik H. Erikson
Die Identität entsteht im Jugendalter
Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson (1902–1994) erforschte den Vorgang der Identitätsfindung. Gemäss seinem Stufenmodell entwickelt sich die Identität in der Pubertät. Sie ist ein innerer Prozess, bei dem sich der Jugendliche mit den gesellschaftlichen Normen und Werten auseinandersetzt und sein Selbstbild formt. Der junge Mensch sucht Antworten auf die Lebensfragen: Wer bin ich? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Welche Wertvorstellungen sollen mein Leben bestimmen? Woran glaube ich? Aus heutiger Sicht ist die Identitätsfindung ein lebenslanger Prozess.
Mein Wertesystem ist meine oberste Orientierungsinstanz. Meine Werte und Regeln formen meine Persönlichkeit und meine Identität. Was halte ich für richtig? Wovon bin ich überzeugt? Wofür stehe ich ein? Für welche Sache lohnt sich mein Einsatz? Ich entwickle politische und spirituelle Überzeugungen und meine persönliche Lebensphilosophie. Wenn ich meine Werte lebe, bin ich voller Selbstvertrauen und gehe selbstbestimmt meinen Weg. Die innere Klarheit macht mich entscheidungsstark und festigt mein Selbstbewusstsein.
Das Kind übernimmt in der Regel die Identität seiner Bezugspersonen. Es lebt die Normen und Werte der Eltern. In der Pubertät hinterfragt der junge Mensch die familiären Handlungs- und Verhaltensregeln. Was ist mir im Leben wichtig? Wie will ich mit meinen Mitmenschen umgehen? Wieso bin ich auf der Welt? Der Heranwachsende entwickelt selbstständig Muster für sein Leben, Denken, Fühlen und Handeln. Der Weg zur Eigenständigkeit ist ein Ablösungsprozess und kann zu Auseinandersetzungen und Konflikten führen.
Aufwachsen in zwei Kulturen
Rund 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund. (Quelle: BFS) Aus diesem Grund gibt es viele Kinder, die zwischen zwei oder mehr Kulturen aufwachsen. Sie werden in der Schweiz sozialisiert, erhalten jedoch die zusätzliche Prägung der elterlichen Kultur(en). Die Kinder von Zugezogenen wachsen weder vollständig in der Schweizer Kultur noch in derer ihrer Eltern auf. Dieser Spagat kann zu einem Loyalitätskonflikt führen. Wem passe ich mich an? Ist die Kultur der Eltern für mich richtig, oder orientiere ich mich besser an den Schweizer Gepflogenheiten?
In mehreren Kulturen aufwachsende Kinder realisieren rasch, dass es unterschiedliche Lebensformen gibt. Nicht alle Menschen haben die gleichen Moralvorstellungen und leben nach dem gleichen Wertmassstab. Jede Kultur pflegt ihre eigenen Bräuche und Sitten. Das Kind lernt, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Und in seinem Alltag erlebt es, dass moralische, politische, historische und religiöse Ansichten verschiedener Kulturen unvereinbar sein können. Kein Wunder also, wenn sich Menschen zwischen zwei Kulturen wurzellos fühlen. Sie sind weder in der Schweiz ganz zu Hause noch im Ursprungsland ihrer Eltern verwurzelt. Darum stellen sie sich Fragen nach ihrer Zughörigkeit: Wo gehöre ich wirklich hin? Was bedeutet für mich Heimat? Gibt es eine Heimat für mich? Welche Kultur passt zu mir?
So entwickelt sich das persönliche Identitätsbewusstsein
Als Kleinkind entwickeln wir starke Bindungen zu unseren Bezugspersonen. In der Pubertät öffnet sich unsere Welt und das Beziehungsnetz vergrössert sich. Der Kontakt zu anderen jungen Menschen wird wichtiger. Wir schliessen uns mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten zusammen, an deren Verhalten wir uns orientieren können und zu denen wir uns zugehörig fühlen.
In der Adoleszenz lernen wir, Verantwortung für unsere Handlungen zu übernehmen und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Wir suchen Antworten auf Fragen wie «Wer bin ich?», «Was macht mich aus?», «Wo ist mein Platz in der Familie?» und «Was ist meine Rolle in der Clique?» Für unsere Taten tragen wir nun die Konsequenzen und für das Gelingen unserer Aktionen sind wir selbst verantwortlich. Wir lösen uns von den familiären Zwängen und werden unabhängiger. Mit den ersten autonomen Schritten starten Teenager ihren Weg zum Erwachsenwerden.
Welche Kultur passt zu mir?
Bei Jugendlichen aus zwei Kulturen gestaltet sich die Identitätsentwicklung komplexer. Unterschiedliche Wertevorstellungen im Heimat- und Gastland und kontrastierende moralische Ansichten und Gepflogenheiten können zu Missverständnissen, Diskriminierung, Ablehnung oder Mobbing führen. Solche innerlich zerrissenen Menschen fühlen sich unsicher und verhalten sich häufig sehr angepasst, um von ihrem Umfeld angenommen zu werden. Sie wollen Konfliktsituationen vermeiden, indem sie versuchen, keine Fehler zu machen, nicht aufzufallen und keinen Anstoss zu erregen. Oftmals leiden Betroffene unter dem Gefühl, anders zu sein, nicht richtig zu sein. Sie fühlen sich keiner Gemeinschaft zugehörig und machen sich klein.
Aber – müssen wir uns für EINE Kultur entscheiden? Nein! Es ist durchaus möglich, sich in mehreren Kulturen zu bewegen. Einige tun dies intuitiv, indem sie mit ihren Eltern in deren Muttersprache sprechen und an traditionellen Feiern aus ihrem Kulturkreis teilnehmen. Sie reisen ins elterliche Heimatland, machen Ferien, besuchen Verwandte und besichtigen kulturelle Sehenswürdigkeiten. Auf diese Weise haben diese Menschen auch eine Bindung zu der Heimat ihrer Eltern, zu ihren ursprünglichen Wurzeln.
Von Heimat und Zuhause
Gerne teile ich an dieser Stelle eine persönliche Erfahrung aus meinem Leben. Meine Mutter stammt aus Österreich. Sie kam als junge Frau in die Schweiz. Vor vielen Jahren sprach ich sie darauf an, wie sie ihre neue Heimat damals empfunden habe. Ich wollte wissen, was damals für sie prägend und wichtig war. Darauf erhielt ich eine überraschende Antwort. Sie erwiderte, dass es für sie essenziell gewesen sei, so zu kochen wie die Schweizer. Weniger wichtig für sie war die Sprache. Als Österreicherin konnte sie sich problemlos mit der einheimischen Bevölkerung verständigen. Trotzdem hat sie die lokale Mundart gelernt und gesprochen. Natürlich merkten die Einheimischen, dass meine Mutter keine Schweizer Muttersprachlerin war. Anhand bestimmter Phrasen und Wörter konnten sie Rückschlüsse auf ihr Herkunftsland ziehen. Mit diesem Umstand hatte meine Mutter jedoch nie ein Problem. Möglicherweise auch, weil österreichische Staatsangehörige einen guten Ruf in der Schweizer Bevölkerung geniessen.
Als Kind war es für das Grösste, wenn meine Mutter österreichische Spezialitäten zubereitete, zum Beispiel Knödel. Das war ein Festmahl für mich! Aus heutiger Sicht erkenne ich, dass die traditionellen Gerichte meiner Mutter, die Esskultur aus ihrer Heimat, mich mit ihr verbunden haben.
Im hohen Alter wurde meine Mutter nach einem Spitalaufenthalt entlassen. Sie sagte mir, sie freue sich sehr, nach Hause zu gehen. Diese Aussage irritierte mich, da zu diesem Zeitpunkt mein Bruder mit seiner Familie im ehemaligen Elternhaus wohnte. Ich fragte behutsam nach, was für sie «nach Hause gehen» bedeute. Worauf sie mit einer Selbstverständlichkeit erwiderte: «Is Altersheim, denk.» Und ich dachte, sie meinte mit «nach Hause gehen» in ihre ursprüngliche Heimat Österreich. Ich fand es sehr spannend, dass meine Mutter die Schweiz als ihre Heimat definiert hatte, wogegen für mich ihre Heimat Österreich war. Offenbar wirkte hier ein Gefühl aus der Vergangenheit in mir.
Fühlst du dich zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen? Plagen dich Schuldgefühle und Loyalitätskonflikte? Sprich mit mir darüber. Ich freue mich auf unser Gespräch.