Differenzierung des Selbst

Unter Differenzierung verstehen wir die Fähigkeit zur Unterscheidung und Abstufung der Wahrnehmung im Erkennen und Denken auf Reiz, Ursachen oder Wirkfaktoren in der Gegenwärtigkeit. Unterschiedliches, angepasstes Reagieren und Handeln können – im Hier und Jetzt. 

Wie sehr beeinflussen meine Gefühle mein rationales Denken? Wie reagiere ich in einem emotional belastenden Zustand wie Angst, Wut, Trauer, Schuld oder Scham? Wenn ich den Unterschied zwischen rationalem und emotionalem Denken und Handeln kenne, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass ich in fordernden Umständen angemessen reagiere. Wenn die Differenzierung zu wenig ausgeprägt ist, reagiere ich impulsiv und emotional. Wenn ich mein Verhalten nicht steuere, läuft es selbsttätig ab. 

Differenzierung ist also der Gradmesser der Fähigkeit von uns Menschen, Emotionen und Rationalität in Beziehung zu unseren Mitmenschen auszubalancieren: In emotional schwierigen Situationen überlegt und rational zu handeln, respektive wählen zu können, ob eine emotionale oder eine rationale Reaktion sinnvoller ist. 

Woher kommt die Fähigkeit zur Differenzierung?

Kleinkinder sind aufgrund ihrer noch nicht vollständig entwickelten Hirnstrukturen nicht in der Lage, zu differenzieren. Sie nehmen alles Gesagte persönlich. Sie fühlen sich als Individuum gemeint und betroffen, unabhängig von der Intention der Bezugsperson. Und manchmal bekommen unsere Jüngsten verurteilende Aussagen zu hören, es wird Druck auf sie ausgeübt oder sie werden getadelt. «Pass doch endlich auf!», «Wie oft muss ich es dir noch sagen?» oder «Stell dich nicht so blöd an!» gehören zu den verbalen Angriffen, welche das kindliche Selbstbewusstsein an seiner gesunden Entwicklung hindern.  

Bis zum Zeitpunkt, wo Kinder fähig sind, Differenzierungen zu machen, haben sich die Reaktionen auf diese persönlichen Angriffe meistens automatisiert. Oftmals ist es dem Kind daher nicht mehr möglich, eine Differenzierung herzustellen. Dies kann im Erwachsenenalter zu fehlendem Selbstvertrauen, Selbstabwertung oder Selbstzweifeln führen.  

Gemäss Studien des US-amerikanischen Psychiaters und Psychotherapeuten Murry Bowen hängen Menschen mit niedrigen Differenzierungsgrad stark von der Akzeptanz von anderen Menschen ab. Sie passen sich deren Meinung an. Sie versuchen zu denken und zu handeln wie ihre Gruppe, Sippe oder Familie.

Mangelnde Differenzierungsfähigkeit am Beispiel von Wut

Die meisten Menschen kennen die Wut aus persönlicher Erfahrung. Ein Trigger (Auslösereiz) kann eine starke Wut in uns auslösen. In dieser Situation ist die Wahrscheinlichkeit einer emotionalen Reaktion gross. In unserer Wut beschuldigen und beschimpfen wir unser Gegenüber. Wir schreien, sind ausser uns, ticken vielleicht sogar aus. Wenn wir diese Reaktionen nicht steuern können, sind wir unseren Impulsen hilflos ausgeliefert. 

Emotionale Reaktionen empfinden wir als unangenehm, wir verletzen damit andere und uns selbst. Oft realisieren wir bereits während des Zustands, dass unsere Reaktion nicht adäquat ist. Diese Erkenntnis kann als Grundlage dienen, an unserem Grad der Differenzierung zu arbeiten.

Bei Menschen, die aufgrund von Erlebnissen in ihrer Kindheit unter erhöhter Wachsamkeit leiden, können undifferenzierte Reaktionen grossen Stress auslösen. Sie sind zwar in der Lage, eine Situation verfrüht wahrzunehmen, können ihre Reflexe aber trotzdem nicht steuern. Ohnmachtsgefühle, Hilflosigkeit oder Handlungsunfähigkeit sind Folgen davon.

Differenzierung in der Paarbeziehung

Über die Differenzierung in der Sexualität hat der 2020 verstorbene Sexual- und Traumatherapeut David Schnarch geforscht. Hierbei geht es um die Fähigkeit, Intimität und Autonomie in einer Beziehung auszubalancieren. Für manche ist die Vorstellung verlockend, innerhalb einer Partnerschaft/Ehe, trotz aller Unterschiede, eine zu enge Verbindung einzugehen. Vielleicht haben dies die Eltern vorgelebt und wir haben nicht hinterfragt? In der Kindheit ist unser Selbst auf die Bezugspersonen ausgerichtet und wird von aussen bestätigt. Auch unser Selbstempfinden wird uns gespiegelt. Der Prozess der Differenzierung bei Erwachsenen führt zu einem selbstbestätigten, stabilen und flexiblen Selbstempfinden. 

Am Anfang einer romantischen Partnerschaft kann man oft eine emotionale Verschmelzung und ein gespiegeltes Selbstempfinden beobachten. Längerfristig führt solches Verhalten in eine Sackgasse. Es kann zu Streit, Unstimmigkeiten und Trennung kommen. 

Damit beide Partner langfristig erfüllt und glücklich bleiben, braucht die Beziehung eine Erhöhung des Differenzierungsgrades. Dies bedeutet, jedem der Partner wird mehr und mehr bewusst, in welchen Situationen er von Emotionen überschwemmt wird und wie er seine Impulse und Reaktionen steuern kann. 

Zwischenmenschlich zeigt sich mein Differenzierungsgrad daran, wie weit ich fähig bin, eine Beziehung zu einem anderen Menschen einzugehen, ohne meine Autonomie aufzugeben. Mit einem gesunden Selbstempfinden kann ich in einer Bindung sein, ohne mich aufzugeben. Ich habe also auch in einer Liebesbeziehung ein selbstbestimmtes Ich/Selbst.

Tipp für Liebende: Ratgeber «Slow Sex» von Diana Richardson (als DVD und Buch erhältlich)

Wie lerne ich besser differenzieren?

  • Erkennen: Wie sind meine Reaktions- und Verhaltensmuster? Ich mache sie mir bewusst. 
  • Beobachten: War mein Respons emotional, der Situation angemessen? Oder war er rational, den Umständen entsprechend? Habe ich wie ferngesteuert reagiert? Waren meine Worte, Gesten und Handlungen ausserhalb meiner Kontrolle? 
  • Reflektieren: Was wäre eine angemessene Reaktion gewesen? Wie verhalte ich mich das nächste Mal in der gleichen Situation? 

So arbeite ich in meiner Praxis

Viele Reaktionsmuster sind mit starken Emotionen verbunden. Wut ist eine solche Emotion. Deshalb erzählen mir Klienten häufig von ihrem Respons in einer Wut-Situation. Darin ist in der Regel ein automatisiertes Muster erkennbar. Dieses Schema spiegle ich dem Klienten. Bei einer «alten» Wut, also Erlebtem in der Kindheit, kann es hilfreich sein, eine adäquate Ausdrucksweise zu finden. Viele von uns machen als Kind die Erfahrung, dass unsere Bezugspersonen überfordert sind bei der Konfrontation mit Wut. In der Folge nehmen wir unser kindliches Ich zurück und drücken die Wut weg. 

Mit dem Klienten suche ich deshalb nach einer passenden Ausdrucksform. Diese erstellen wir in seiner Vorstellung. Unser Hirn kann bekanntlich nicht unterscheiden, ob wir etwas tatsächlich tun oder uns eine Realität nur vorstellen. Die Wirkung ist dieselbe. Mit dieser genialen Methode gelingt es dem Klienten, seine angestaute Wut Schritt für Schritt loszulassen. Und mit der neu erlernten Differenzierung ist er künftig nicht mehr hilflos seinen Reaktionen ausgeliefert, sondern verfügt über die herbeigesehnte Fähigkeit, in schwierigen Situationen überlegt handeln und reagieren zu können. 

Möchtest du deine Reaktionsmuster mit mir zusammen unter die Lupe nehmen? Dann kontaktiere mich für ein Erstgespräch.